Rimini Protokoll:
16 Szenen für einen Wald

Als Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff 1842 erstmals erschien, geschah dies in einer Zeitschrift in 16 Teilen mit dem Untertitel Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen. Heute ist der Text ein Klassiker der Weltliteratur und für viele ein Muss im Schulunterricht. Vom 16. Juni bis 13. August 2023 wird Die Judenbuche im Park von Burg Hülshoff nun Ausgangspunkt einer Installation von Rimini Protokoll. Es ist eine Mischung aus Hörspiel, Film und Naturbetrachtung an acht Bäumen entstanden.

Helgard Haug und Daniel Wetzel von dem bekannten Regie- und Theaterkollektiv Rimini Protokoll zogen los, um mit Menschen über ihre Erfahrungen mit diesem Text aber vor allem mit den Themen dieses Textes zu sprechen: über häusliche Gewalt, Suchterkrankungen, prekärem Leben, Klassismus, Antisemitismus, Korruption und gebeugtem Recht. Sie interessierten sich außerdem für die Mechanismen einer Gemeinschaft, wie sie Droste-Hülshoff anhand des »Dorfes B« so schildert:

» Recht und Unrecht sind einigermaßen in Verwirrung geraten. Neben dem gesetzlichen hat sich ein zweites Recht gebildet: Ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der Verjährung. Es lässt sich behaupten: die Form ist schwächer, der Kern fester, die Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener.«

— aus »Die Judenbuche« von Annette von Droste-Hülshoff

Die Themen sind so gegenwärtig, dass Helgard Haug und Daniel Wetzel sich zu einem ungewöhnlichen Manöver entschieden: Denn wo sie in ihrer langjährigen Inszenierungspraxis oft Originaltexte überschreiben und Protagonist*innen gegen Expert*innen aus der heutigen Alltagskultur auswechseln, wenden sie sich für diese Arbeit ein zweites Mal dem ursprünglichen Text zu. Sie nehmen kleine aber entscheidende operative Eingriffe in das Original vor.

Wie klingt der Text etwa im Präsens? Wie, wenn er aus verschiedenen Perspektiven zeitgleich erzählt wird? Was geschieht, wenn die Figuren der Geschichte zu Stimmen werden und diese sich den Droste-Text als Subjektive aneignen? Was, wenn die Besucher*innen sich gegenseitig Rollen zuweisen? Wie ändert sich ihre Wahrnehmung des Textes, wenn sie Platz nehmen auf einem der acht Hochsitze, die in dem Wäldchen hinter der Burg aufgebaut sind, um von dort aus die 16 Szenen für einen Wald zu erleben?

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»Wo sonst ein Jäger möglichst stillsitzt, um zu beobachten und zu handeln, ertönen nun Stimmen und Klänge, und den Besucher*innen werden Instruktionen zugespielt, die sie nicht nur zu Rezipient*innen des aktualisierten Textes werden lässt sondern zu Mitspielenden, denen es vielleicht gemeinsam gelingen mag, die Gespenster der Vergangenheit aus diesem Wäldchen zu jagen,« so Helgard Haug und Daniel Wetzel über ihre Inszenierung der Judenbuche.

Eines haben Haug und Wetzel dem Text für ihre Bearbeitung allerdings genommen: den Antisemitismus. Dessen Verbreitungsmechanismus tritt in Droste-Hülshoffs Text deutlich zutage, seine Grausamkeit ist bei Droste strukturell und präsent, auch bevor es zur Tat kommt: dem Mord an dem Juden Aaron. Die Arbeit der Autorin basiert auf einem historisch dokumentierten Fall, doch ist nicht nur das »Dorf B« schon bei Droste-Hülshoff das Modell eines Dorfes, ein Meta-Dorf. Auch die Figuren – der F, der J, der von S – sind Prototypen, wie auch die schweigende Mehrheit der Dorfbewohner*innen. Die Juden der Gegend erscheinen als jene Instanz in der Erzählung, die sich kohärent und ohne Widersprüche ihrer Trauer entsprechend verhalten. Dennoch ist die Haltung des Textes zum geschilderten Antisemitismus unklar und wird teils dadurch überdeckt, dass er sich gegenüber Bedürfnissen nach einer transzendentalen Instanz offen zeigt.

Haug und Wetzel öffnen den Text Drostes für ein gänzlich anderes Erleben: Kann sich im Hier und Jetzt eines Waldes eine Gruppe von Menschen in den Text hineinschreiben?

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© Matthias Mielitz


Mit den Stimmen von: Gerd Brendel, Heiko Daniels, Bettina Grahs, Vassilis Koukalani, Lorenz Krieger, Jacques Malan, Mia Rainprechter, Hilmar Wittler, und anderen

Konzept, Textbearbeitung, Sound: Helgard Haug und Daniel Wetzel
Video: Marc Jungreithmeier
Sound Mischung: Frank Böhle
Technische Leitung: Patrick Tucholski
Assistenz: Lisa Homburger
Mitarbeit Audioschnitt: Steffen Tielcke
Technische Einrichtung, Waldarbeit: Klaudiusz Schimanowski
Produktionsleitung CfL: Sophie Stroux
Produktionsleitung RP: Vera Nau

Orientalische Musik: Aspa Anogiati (Lyra, Bendir, Musikalische Beratung und Arrangement), Badee Alhindi (Geige, Rebab, Cello) Ahmad Almir (Oud), Özlem Yilmaz (Ney)

Unter Verwendung von Nisiotikos Chorus (Traditional), To Minore Tis Avis (Traditional), Franz Schubert: Gute Nacht.

Dank an die Kunsthalle Mannheim, Pia Goebel, Anja Heizer, das Nationaltheater Mannheim, Dominika Siroka.

Förderer

16 Szenen für einen Wald ist eine Koproduktion von Burg Hülshoff – Center for Literature mit Rimini Apparat, gefördert durch die Kunststiftung NRW, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und das Landesbüro Freie Darstellende Künste.
Die Installation ist Teil des Projekts Mit den Gespenstern leben (haunting|heritage), das gefördert wird durch die Kulturstiftung des Bundes, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen im Programm »Regionales Kultur Programm NRW«, die Commerzbank-Stiftung und die Kunststiftung NRW.

Partner

Präsentiert von Kultur.West und taz. die Tageszeitung.